Ein Zukunftsszenaario
„Volgeproptet miniland / hebt voor eeuwigheid bestand!“ So heißt es bereits im Nationalepos des Rotterdamer Dichterfürsten Boudewijn van Baerle (1262 – 1273). Und so lispeln, leiern und lallen es die niederländischen Schulkinder seit Jahrhunderten herunter, Tag für Tag. Aber nicht mehr lange.
Denn wenn es stimmt, was neueste Forschungsergebnisse zeigen – dass sich die Welt noch schneller erwärmt als bisher gedacht, dass der Meeresspiegel noch schneller steigt, in den nächsten zehn Jahren bis zu drei Metern – dann bedeutet das für weite Teile der Niederlande das Aus. Die dicht besiedelten Gebiete rund um das Ijsselmeer, sie werden in den Fluten versinken. Und mit ihren Millionen Menschen. Wenn sie nicht rechtzeitig türmen.
Noch aber harren sie aus. Noch trotzen sie dem Klimawandel. Noch ist die Stimmung gelassen, hört man sich in der Bevölkerung ein wenig um. „Daar heb ik schijt an“ („Da scheiß ich drauf“), nuschelt ein weißblonder Schweinemäster mit Sommersprossen und Überbiss. “Geen probleem“ brummt ein in die Jahre gekommener Treibhausbesetzer und zuckt die bleichen Schultern. Die typisch niederländische Langmütigkeit, sie zeigt sich auch hier.
Doch irgendwann, in ein paar Jahren, werden sie nasse Füße kriegen. Wenn der Keller wieder mal unter Wasser steht. Wenn das Fahrrad wieder mal im Matsch stecken bleibt. Wenn die Menschen durch überflutete Gassen waten, grummelnd und fluchend, „Godverfuck“, oder „Gossiedepossie“ (Verdammt). Wenn die Schimmelpilze auf ihren Schenkeln wuchern und die Algen in ihrem Haar.
Bis es am Ende eng wird. Bis mehr Wasserratten als Touristen durch die Coffeeshops flitzen. Bis die Dichter apokalyptische Verse verfassen („water // stroOm & ondergang / klokKlok – kloKklok – Saluut!“), und die ärztliche Sterbehilfe sprunghaft ansteigt. In neun, zehn Jahren, vielleicht sind es auch elf, ist alles dahin. Wo heute sich endlose Monokulturen erstrecken, wird morgen die endlose Nordsee wogen. Hier und da wird vielleicht eine aufgedunsene Heinecken-Dose aus den Fluten ragen, ein morscher Windmühlenflügel oder ein rostiger Rechtspopulist, zwischen dessen bleichen Lippen eine kecke Makrele hervorlugt – sonst nichts. Ende. Vanitas.
Das wäre an sich nicht so schlimm. Ein Land, dessen einziger Bodenschatz Torf ist, dessen einzige Kulturgüter RTL 4, RTL 5, RTL 7 und RTL 8 und dessen einziger Exportschlager Pommes Schranke – muss man sich darum sorgen? Man muss. Denn die Folgeschäden tragen dabei andere: Deutschland, als das wichtigste, größte und begehrenswerteste Nachbarland dieses kleinen, volkreichen Landes wird unweigerlich in den Fokus rücken. All die Nutz- und Staatenlosen, Entwurzelten, von den Fluten Vertriebenen, sie werden sich nicht lang bitten lassen. Sie werden kommen. Zu uns.
In Deutschland sieht man alledem mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits gibt es da diverse EU-Verpflichtungen, die Genfer Flüchtlingskonvention und das Gebot der Nächstenliebe. Andererseits hat auf die Flüchtlingsmassen keiner so recht Bock. Vor allem nicht im grenznahen Emsland, diesem schmalbrüstigen, strukturschwachen Landstrich, in dem die Bevölkerung selbst kaum genug zu beißen hat. Hier geht die Angst um. Schon jetzt. „Sie nehmen uns die Frauen weg. Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, umreist eine Beamtin aus Aurich die düstere Zukunft. „Diese van Dalen! Diese van der Ratten!“, ächzt ein halbstarker Torfstecher und Hobby-Hip-Hopper aus Volzel. Ein paar Bauern haben bereits ihre Fenster vernagelt und Warnschilder gemalt: „Vorsicht, bissige Schafe“ steht darauf, in blutroter Plakafarbe. Das Aufbrechen neuer ethnischer Konflikte ist nahezu vorprogrammiert.
Volk ohne Raum
Doch Warnschilder werden nichts nützen. Zehn Millionen Heimatlose, mit zehn Millionen Mastschweinen im Schlepptau, lassen sich nicht einfach aufhalten. Sie werden kommen. Ein riesiger Flüchtlingstreck wird gen Osten walzen: Frauen und Kinder, Weiße und Schwarze, Hooligans und Homosexuelle, Shell-Manager und Schweinehirten. Müde, ausgezehrt. „Hulp! Hulp!“, werden sie rufen, wenn sie die B31 entlang stapfen, wenn sie an unseren Pforten hämmern, an unseren Zäunen nagen, jappend nach einem warmen, trockenen Plätzchen und deutscher Hochkultur. „Wir haben euch doch ouch aus de Patsche gehoulfen“, wird der ein oder andere zahnlose Alte krakeelen und seinen alten SS-Aufnäher hervorkramen, wie andere Veteranen der 60.000 Mann starken “Division Nederland“ auch.
Und ja: Man wird ihnen helfen müssen. Man wird sie sie irgendwie aufnehmen. Man wird ein paar grenznahe Zeltstädte bauen, die geräumigen Hochmoore des Emslands sind dafür ideal. Ein paar Dixie-Klos, ein paar Wellblechbordelle, fertig sind Hunderte Auffanglager. Dort werden sie verschnaufen. Dort werden sie erstmal hocken. Und jammern. Und klagen. Bei Nacht in den sternklaren Himmel stieren und Gott vollquatschen oder Pim Fortuyn. Die Dichter werden am Lagerfeuer die verlorene Heimat besingen: „Nederland – kapot / lekker groot Tomat – kapot / Windmolen – kapot / Gebroken Hartje!“, und irgendein findiger Volkspoet, lass es Leon de Winter sein, wird mit dem Flüchtlingsdramolett ‚Der fliehende Holländer’ die Heimatlosen zu Tränen rühren. Ansonsten: Nichts. Leere. Langeweile. Nur die ein oder andere Lagerrevolte sorgt ein wenig für Kurzweil.
Natürlich können sie da nicht ewig hocken. Natürlich müssen sie irgendwann integriert werden, müssen deutsche Sitten und Gebräuche kennenlernen. „Wir erlauben hier keine Pädophilie. Und keine Pommes mit Zwiebeln“, wird der deutsche Flüchtlingsminister in Spe den Neuankömmlingen ins Hirn pusten. Und natürlich müssen all die Flüchtlingsbuben und -mädel zur Schule. Auch, wenn sie dort keiner will. Da gibt es auf dem Pausenhof schon mal ein „Oranje Utan“ an den Kopf geknallt oder einen Ziegelstein.
Und natürlich müssen die Erwachsenen den Hintern hochkriegen, müssen, je nach Fähigkeiten und Vorkenntnissen, in Lohn und Brot gebracht werden. Ein paar Spieler von Ajax Amsterdam kriegen vielleicht beim SV Meppen 1912 eine Chance. Andere versuchen als Tulpenverkäufer ihr Glück, strolchen durch die Szeneviertel von Leer oder Meppen und wispern: „Allerliefst bloem for allerliefst vrouw?“, mit dünner Stimme, mit blassblauen Augen und einem schiefen Lächeln. Die meisten jedoch gehen es lockerer an, lungern in den Lagern herum, klauen Kartoffeln auf den Äckern oder kriechen durch die Fußgängerzonen und flehen: „Geld? Kies? Kneedsel? Muisjes?“. Die Frauen sind da geschäftstüchtiger, versuchen es am Straßenrand. Prall, sinnlich, unbefleckt – die holländischen Riesentomaten, aus der Heimat eingeschleust und hier ausgesät, bringen bestimmt ein paar Cents. Dennoch, auch mit ehrlicher Arbeit kommen sie hier nicht recht an. Sie bleiben Zaungäste, Gesockse, Kanaille. Für lange Zeit.
Aber nicht für immer. Irgendwann, in zwanzig oder zweihundert Jahren, werden sie sich assimilieren. Nur ihr Deutsch wird dann vermutlich noch immer Anlass zur Heiterkeit geben, wenn sie in ihrem putzigem Pidgin palavern, das Linguisten Oranjeduits taufen. Ansonsten werden sie sich kaum noch von unsereins unterscheiden. Und werden, schlussendlich, unser Land in ihr Herz schließen. Sogar die kritischsten Geister: Die Dichter. Dann werden sie deutsche Lobeshymnen anstimmen, wie vor ihnen Goethe oder Durs Grünbein: „aldi – grandioos / doosenpand – grandioos / swarzbrood – grandioos / kernreactors, nazivergangenheid, kruemmel, nieuwschwanstein etc. etc. natuurlijk ook grandioos // heile weld!!;-)“